Die Geschichte der
„Oberen Niedersburger Nachbarschaft“
Schaut man auf den Katasterplan der Stadt Boppard aus dem Jahre 1825, dann fallen zwei Dinge auf: wie klein Niedersburg damals war und wie weit von der Stadt entfernt die bebaute Zone lag. Die Koblenzer Straße war zwar gebaut, doch stand an ihr nur ein einziges Haus an der Ecke Burdengasse, das dem Johann Josef Müller gehörte.
Durch Niedersburg zogen die Leiergasse, die Hintergasse und der Leinpfad am Rhein, senkrecht zu ihnen die Burdengasse entlang dem Burdenbach, der damals noch Lohbach hieß, ein Hinweis auf die dort ansässigen Loher oder Lohgerber.
Die Niedersburger Gemarkung wird durch den Fraubach, den Rhein und die Koblenzer Straße sowie ganz im Westen durch den Mühlbach zwischen Koblenzer Straße und Rhein begrenzt. Insgesamt ergibt sich für Niedersburg das Bild einer kleinen Vorstadtsiedlung, die – und das ist bezeichnend – nicht vom Ring der Stadtmauer umschlossen war.
Trotz der bescheidenen Ausdehnung hat Niedersburg in der Bopparder Geschichte einen allerersten Rang. Der Bopparder Katasterplan von 1825 nennt zwischen Koblenzer Straße und Rhein unter den Nummern 4 -6 drei große Grundstücke, die „An Königs Haus“ heißen.
Ein drittes Niedersburger Denkmal, ein schöner Baum an der Mündung des Burdenbachs in den Rhein, wird auf den Stadtansichten von Braun und Hogenberg (1590), Merian (1646) und Goswin Klöcker (1742) gezeigt. Da im 19. Jahrhundert an dieser Stelle die mit so vielen Traditionen der Niedersburger Nachbarschaft verbundene Linde genannt wird, die auch heute noch – von Zeit zu Zeit neu gepflanzt – ihren festen Platz im Leben der Nachbarschaft hat, darf man wohl annehmen, dass die alten Bilder ebenfalls die Linde als bedeutendes Niedersburger Kennzeichen zeigen wollten.
An dieser Stelle dürfte es angebracht sein, über die Entstehung einer zweiten Niedersburger Nachbarschaft zu sprechen, die aus den örtlichen Gegebenheiten nicht zu erklären ist, da es eine Grenze zwischen der Unteren und der Oberen Nachbarschaft in Niedersburg nicht gibt. Einen überzeugenden Beweis dafür liefert ein in den Akten der Bälzer Nachbarschaft erhaltener Brief des Nachbarmeisters der Oberen Niedersburger Nachbarschaft, der als Antwort auf die Bitte des Bälzer Nachbarmeisters, die Grenzen der Nachbarschaft mitzuteilen, am 18. März 1928 geschrieben wurde. Der Nachbarmeister Johann Stumm teilte mit, eine Grenze zwischen den beiden Nachbarschaften könne nicht angegeben werden, da die unteren und oberen Nachbarn der Niedersburger Nachbarschaften durcheinander wohnen und wir mit der unteren Niedersburger Nachbarschaft zu einer Grenzziehung nicht kommen können.
Über die im Jahre 1887 vollzogene Abtrennung, durch die aus der bisher gemeinsamen Nachbarschaft der Niedersburger zwei Nachbarschaften wurden, sind schriftliche Unterlagen über das Warum und Wieso nicht erhalten. Es gibt allerdings einen Anhaltspunkt, der richtungsweisend sein könnte: man feierte in der Oberen Nachbarschaft die erste Kirmes am 7. August 1887, also an dem Tag, an dem auch die Heersträßer Nachbarschaft die Kirmes beging, während die Untere Nachbarschaft an der Kirmes am Fastnachtsmontag bis zum Jahre 1918 festhielt. Wir kennen nur das Resultat: die Trennung im Jahre 1887, bei der freilich die neue Obere Nachbarschaft die Statuten der älteren Nachbarschaft, die nun die Untere Nachbarschaft genannt wurde, in allen wesentlichen Punkten, bis auf den Termin für die Kirmes, übernahm.
Auf eine kurze Form gebracht kann man diese Entwicklung so zusammenfassen: man vertrug sich nicht und deshalb ging man auseinander. Wie sehr die Trennung aber in der Erinnerung blieb und als schmerzlich empfunden wurde, zeigen die mehrfach unternommenen, aber nie von Dauer gewesenen Versuche, den Kirmesbaum gemeinsam aufzustellen und den Kirmesumzug gemeinsam zu halten.
Am 13. August 1887 trat die Obere Niedersburger Nachbarschaft ins Leben. Für die geschichtliche Entwicklung der Oberen Niedersburger Nachbarschaft dürfte es von Bedeutung sein, dass sie im Protokollbuch der Niederstädter Nachbarschaft 1917 die Leiergässer Nachbarschaft genannt wurde. Die Leiergasse geht mit ihrem Namen zurück auf folgende Vermutung: Leier oder Lauer ist die niederdeutsche Bezeichnung für die Gerber, die auch Loher genannt wurden. Der durch Niedersburg fließende untere Teil des Burdenbaches heißt 1825 im Kataster Lohbach. In der Bopparder Sprache hat sich für die Bewohner an Lohbach und Leiergasse der Name „Luhbächer“ erhalten, ein Hinweis auf die noch im 19. Jahrhundert dort arbeitenden Gerber, die für ihr Handwerk das leicht aus dem Bach abzuleitende Wasser zum Füllen und Reinigen der mit Eichenlohe gefüllten Gerbergruben benötigten.
Wenn das Buch der Oberen Niedersburger Nachbarschaft im Gründungsjahr 1887 an die 60 Mitglieder nennt, dann wird diese Entwicklung zwischen Fraubach, Burdenbach und Mühlbach unterstrichen. Auch wenn in dem für beide Nachbarschaften gemeinsamen Gebiet zwischen Koblenzer Straße, Flogt und Sabelstraße neue Schwerpunkte entstanden, in denen die eine oder andere Nachbarschaft dominierte, so kann es doch auch heute noch so sein, dass beide Nachbarmeister im Mühltal wohnen; und die Niedersburger Linde am Rhein gehört sowieso beiden Nachbarschaften gemeinsam, auch wenn das heute nicht mehr so häufig und so deutlich zum Ausdruck kommt wie vor hundert Jahren, als alle verstorbenen Nachbarn aus beiden Nachbarschaften zur Linde gebracht und von dort aus zur Kirche und dann zum Friedhof getragen wurden.
Im Gründungsjahr wurden eine Schelle, ein Blankobuch zum Eintragen der Statuten, der Mitglieder und der Jahresrechnungen, ferner zum Gebrauch bei den Beerdigungen 12 Kerzen gekauft. Nachbarschaftliches Zusammenstehen und gegenseitige Hilfe wurden bis weit in das 19. Jahrhundert hinein in einem bedeutend größeren Rahmen in Wort und Tat verwirklicht, als dies heute noch möglich ist. In den Statuten von 1866 wird für die noch ungeteilte Nachbarschaft festgehalten, dass ein verstorbener Nachbar von seinen vier nächsten Nachbarn zur Kirche und dann zum Grabe zu tragen ist. Dieser Brauch wurde in die Statuten von 1887 nicht mehr übernommen. Hier heiß es stattdessen: das Tragen der Leichen geht um unter den Mitgliedern der Nachbarschaft; der Nachbarmeister hat den Dienst denjenigen Nachbarn, die an der Reihe sind, anzusagen. In den Statuten der Oberen Niedersburger Nach-barschaft vom Jahre 1887 heißt es: Hauptzweck der Nachbarschafts-vereinigung sei es, bei Sterbefällen von Mitgliedern oder deren Angehörigen gemeinschaftlich der Beerdigung beizuwohnen, respective die Leiche vom Sterbehaus zur Kirche und von dort bis zum Marienberg (Stadtgrenze) zu begleiten. Kurz und eindringlich ist diese Verpflichtung in einer späteren Fassung der Statuten aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts (§ 17) in dem Satz zusammengefasst: „Sobald die Fahne bei der Leiche erscheint, hat jeder Nachbar bei der Fahne zu erscheinen“.
DER VORSTAND. Die Gründung der Nachbarschaft im Jahre 1887 brachte es mit sich, dass der in älteren Nachbarschaften zu beobachtende Vorgang der Veränderung im Amt des Nachbarmeisters, der jährlich neu bestimmt und gewöhnlich aus den jüngsten eingetretenen Nachbarn genommen wurde, keinen Niederschlag im Buch der Nachbarschaft gefunden hat. Der Nachbarmeister alter Ordnung war in Wirklichkeit ein Diener der Nachbarschaft, der vielerlei Verpflichtungen zu erfüllen hatte. Im Jahre 1887 hatten alle Bopparder Nachbarschaften – die einen früher, die anderen später – diese Organisationsform zu einem festen Vorstand weiterentwickelt. So heißt es im § 5 der Statuten: „Die Mitglieder wählen aus ihrer Mitte einen Vorstand, bestehend aus 1. Nachbarmeister, 2. Schriftführer mit je einem Beigeordneten (und) 3. Nachbarschaftsdiener“. § 6 bestimmt: „Der Vorstand ist jedes Jahr am Kirmesmontag neu zu wählen und die Mitglieder sind wieder wählbar“. Damit beginnt die Reihe der von Jahr zu Jahr wiedergewählten Nachbarmeister mit unterschiedlich langen Amtszeiten. Der Titel eines Nachbarmeisters für den Vorsitz einer Nachbarschaft ist in den Bopparder Nachbarschaften nicht überall zur gleichen Zeit übernommen worden, doch hat er sich dann in allen Nachbarschaften durchgesetzt.
DIE KIRMESFEIER hat sich aus bescheidenen Anfängen im Laufe der Zeit weiterentwickelt. In den Statuten von 1887 heißt es: Am Nachbarschaftstag wird morgens eine Heilig Messe gefeiert, an der sich alle Nachbarn – wenn möglich – zu beteiligen haben. Um neun Uhr finden sich die Nachbarn im Lokal des Kirmeswirtes „zum gemeinsamen Gebet und den weiteren Verhandlungen von Vereinsangelegenheiten“ ein. Die Jahresrechnung von 1937 lässt eine Ausweitung der Kirmes erkennen und macht deutlich, dass die Dienstleistungen der Nachbarn, die in Geld zu bezahlen waren, zunehmen. Über die Hälfte der Ausgaben von knapp 200 Mark wird für das Kirmesfrühstück verwendet. Man hat zur Kirmes Einladungen drucken lassen. Dem zu Kirmes erscheinenden Bürgermeister der Stadt wird ein Flasche Wein spendiert. Mit dem gemütlichen Abend am Kirmesdienstag ist eine Verlosung verbunden.
Zum jetzigen Zeitpunkt feiert die „Obere Niedersburger Nachbarschaft“ alljährlich am ersten Wochenende im August die wohl größte Kirmes in der Stadt Boppard auf dem „Remigius-Platz“ am nördlichen Ende der Stadt mit Live-Musik, Auto-Scooter, Kinder-Karussell, Schießbude, Losbude u.v.m.
DER KIRMESBAUM bei der Niedersburger Linde am Rhein gehört wohl zum gemeinsamen Erbe beider Nachbarschaften, doch hat man dieses Erbe in verschiedener Weise gepflegt. Da die Untere Niedersburger Nachbarschaft ihre Kirmes bis zum Jahre 1918 am althergebrachten Fastnachtsmontag hielt und erst von 1919 an sich dem Kirmestermin der Oberen Niedersburger Nachbarschaft und der Heersträßer Nachbarschaft am 1. Sonntag im August anschloss, ergaben sich aus den unterschiedlichen Kirmesterminen vor 1918 auch Schwierigkeiten für die Kirmesfeier. Seit 1919 feierte man gemeinsam, doch hielt die Gemeinsamkeit nicht lange. Ab 1926 veranstaltete die Untere Niedersburger Nachbarschaft einen eigenen Kirmesumzug; ein Vermittlungsversuch im Jahre 1937 scheiterte an den nicht in Einklang zu bringenden Ansichten. Erst nach dem 2. Weltkrieg kam man überein, (1949) die Aufstellung des Kirmesbaumes und den Umzug wieder gemeinsam zu halten, und zwar in der Weise, dass beide Nachbarschaften abwechselnd die Führung und die Verantwortung übernahmen. Auch über die Anbringung der Kirmeskronen im Gebiet der beiden Nachbarschaften einigte man sich. Jedoch war diese Einigung ebenfalls leider nur von kurzer Dauer. Die „Obere Niedersburger Nachbarschaft“ stellt seit 1977 in eigener Regie den Kirmesbaum auf, weil die Untere Niedersburger Nachbarschaft das Risiko und mögliche Schadensersatzforderungen bei Unfällen nicht mehr übernehmen wollte.
DIE FAHNE. Über die erste Fahne der Nachbarschaft liegen nur wenige Nachrichten vor. In der Jahresrechnung vom 3. August 1908 ist ein Betrag „Für Stempel bei der Fahnenweihe“ (1,50 Mark) ausgewiesen. Aufgrund der Notiz von 1908 darf man wegen des genau bezeichneten Vorgangs annehmen, dass die Fahnenweihe in diesem Jahr stattfand.
Die zweite Fahne kam in Jahre 1937. In der Jahresabrechnung stehen 102,72 Mark für Fahnenseide, Schärpe und andere Ausgaben sowie 90 Mark für den Maler, der die Fahne malte; sein Name wird nicht genannt. Zum 70. Jahrestag der Gründung der Nachbarschaft im Jahre 1957 gab es die dritte Fahne, die zum Preis von 1.300 Mark von der Bonner Fahnenfabrik angefertigt wurde. Die Fahnenweihe in der Karmeliterkirche hielt am 4. August 1957 Pastor Erhard Krummeich. Die Nachbarschaft hatte den Hochaltar festlich geschmückt. Dann zog man in Begleitung aller Bopparder Nachbarschaftsabordnungen mit ihren Fahnen durch die Straßen der Oberen und der Unteren Niedersburger Nachbarschaften und von dort zum Festakt im Kolpinghaus. Die Feier endete am Dienstagabend mit dem Abspielen der Kronen in beiden Niedersburger Nachbarschaften und einem Nachbarschaftsabend im Kolpinghaus.
Die Nachbarschaft feiert heute ihre Kirmes nach einem erweiterten Programm. Vierzehn Tage vor der Kirmes wird in einer Gaststätte das Gebott gehalten. Es beginnt nach der Begrüßung durch den Nachbarmeister mit dem Gebet für die verstorbenen Mitglieder, deren Namen verlesen werden. Nach der Aufnahme neuer Mitglieder bespricht man Einzelheiten der bevorstehenden Kirmes.
Am Samstag vor dem Kirmessonntag, dem 1. Sonntag im August, ziehen Burschen und Männer der Nachbarschaft durch das Mühltal in den Wald, wo unter Aufsicht des zuständigen Revierförsters der Kirmesbaum gefällt und verladen wird. Auf dem Rückweg hält man bei Nachbar Martin Weinand, wo es Weck, Wurst und Bier gibt. Nach einer zweiten Rast auf dem Rückweg kommt man dann am späten Nachmittag zum Eingang des Mühltals, wo eine Musikkapelle sich einreiht und den Zug mit dem Baum zum Platz an der Linde am Rhein begleitet, wo der Baum aufgestellt wird. Der Umzug durch die Nachbarschaft, bis 1967 am Nachmittag des Kirmessonntags, wird wegen der Schwierigkeiten im Straßenverkehr (B9) nicht mehr gehalten. Der Kirmesmontag beginnt mit dem gemeinsamen Gottesdienst der drei Nachbarschaften (Heersträßer, Obere und Untere Niedersburger Nachbarschaft) in der Karmeliterkirche. Mit Musik zieht man dann zum Festplatz auf den Remigiusplatz, wo der Frühschoppen gehalten wird; nicht selten ist angemerkt, dass er sich weit in den späten Nachmittag hinzog. Am Freitag der Kirmeswoche werden gegen Abend der Kirmesbaum und die am Kirmessonntag in der Frühe aufgespielten Kirmeskronen abgespielt, ein letztes Kirmesvergnügen für die Kinder, die nach den in den Kronen hängenden Sachen springen. Danach trifft sich die Nachbarschaft zum gemütlichen Ausklang der Kirmes an der Niedersburger Linde.
Quellen und Literatur:
Beiträge zur Geschichte der Stadt Boppard von Ferdinand Pauly
Band 2: Die Nachbarschaften